Eine Lektüre-Empfehlung: Der Artikel ‚Was reden wir denn da?‘ in der Zeitschrift GEO

Wenn man sich als Sprachinteressierte/r ein wenig näher damit auseinandersetzt, dass sich auch die deutsche Sprache im Laufe der Zeit verändert, so stößt man beinahe unweigerlich auf eine Diskussion, die die Gemüter immer wieder aufs Neue erhitzt: Die sogenannte Sprachverfallsdebatte. Vor wenigen Jahren, um ein beinahe berühmt-berüchigtes Beispiel für die Sprachverfallsklage zu nennen, wurde in einem SPIEGEL-Leitartikel mit dem Titel Deutsch for sale? festgestellt: „Die deutsche Sprache wird so schlampig gesprochen und geschrieben wie wohl nie zuvor.“ Und auch im Laufe dieses Jahres konnten wir Vergleichbares lesen, diesmal in einer ZEIT-Sonderbeilage des Sprachkritikers Wolf Schneider: Die deutsche Sprache „[…] zu vergeuden oder gar zu verhunzen ist die größte Torheit, die wir begehen können. Aber begangen wird sie.“ (S.4) Von solchen Behauptungen ausgehend skizzieren sprachpflegerische Autoren nicht selten ein Schreckensszenario des Untergangs der deutschen Sprache – und zahlreiche Symptome für die angeblich kranke, geradezu dahinsiechende deutsche Sprache sind schnell bei der Hand: Anglizismen, Jugendsprache, Chat- und SMS-Kommunikation etc. Und auch die Schuldigen für die Misere werden genau identifiziert: die Werbung, die Wissenschaft, die Presse und sowieso alle unachtsamen Sprachnutzer, die anscheinend (oder doch nur scheinbar?) Worte nicht von Wörtern unterscheiden können.

Deutlich erkennbar ist dabei: Wer den Sprachverfall beklagt, blickt notwendigerweise zurück und vergleicht die Gegenwartssprache mit vergangenen Sprachzuständen – denn verfallen kann ja nur etwas, das angeblich einmal besser in Schuss gewesen sein soll. Klar ist auch: Derlei Klagelieder hört und liest man in regelmäßigen Abständen; allzu neu sind sie allerdings nicht, kann man sie doch wenigstens bis in die Antike zurückverfolgen. Freilich konnte bislang kein einziges Beispiel für eine tatsächlich verfallene Sprache genannt werden, worauf etwa der Sprachwandel-Experte Rudi Keller in einem online verfügbaren Text zum Thema hinweist.

Dennoch sollte man die sich hartnäckig haltende Sprachverfallsklage ernst nehmen und nach Ursachen für dieses Phänomen fragen; schon alleine deswegen, da die Angst vor einer zunehmend verlotternden Sprache nicht nur von einigen wenigen Sprachkritikern und -pflegern geäußert wird. Laut einer häufig zitierten Umfrage aus dem Jahre 2008, die von der Gesellschaft für deutsche Sprache in Auftrag gegeben worden ist, gehen 65% der Deutschen davon aus, dass die deutsche Sprache zunehmend verkommt. Es verwundert also nicht, wenn das Thema wiederholt in den Medien aufgegriffen wird – oftmals leider jedoch in der zweifelhaften Qualität des oben zitierten SPIEGEL-Artikels. In solchen Publikationen wird die Angst vor Sprachverfall geschürt anstatt für Aufklärung zu sorgen, indem man bspw. mit einigen Irrtümern im Zusammenhang des vielschichtigen Themas ‚Sprachwandel‘ aufräumt.

Doch zum Glück geht es auch anders! In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift GEO findet sich ein lesenswerter Artikel, der bereits auf der Titelseite in großen Lettern angekündigt wird: „Der Untergang der deutschen Sprache?“ wird hier gefragt. Und tatsächlich wird beim Lesen rasch ersichtlich: Das Fragezeichen im Titel ist Programm! Wir haben es hier nicht mit einer erneuten Wiederholung sprachpessimistischer Klagen zu tun, sondern mit einer sehr gut recherchierten Aufarbeitung einiger seit Längerem heiß diskutierten Themen. Es geht u.a. um Anglizismen, den Sprachwandel durch die Nutzung neuer Medien, ‚Kiezdeutsch‘ oder auch das Verhältnis von Dialekt und Standard im Deutschen; der letztgenannte Punkt nimmt sogar den größten Teil des Artikels ein.

Der Autorin Johanna Romberg gelingt es, fundiert und anschaulich darzulegen, warum wir es bei so manchem Phänomen unserer Gegenwartssprache nicht mit vorschnell zu verurteilenden Symptomen eines vermeintlichen Sprachverfalls zu tun haben. Ein Beispiel aus dem Text ist der bereits erwähnte Fremdwortgebrauch. Mit Bezug auf den Sprachwissenschaftler Peter Eisenberg macht die Autorin deutlich, dass die Befürchtungen, die deutsche Sprache werde durch Einflüsse von außen verdrängt, unbegründet sind. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass längst nicht alle heutzutage auftretenden Anglizismen dauerhaften Eingang in unsere Sprache finde; im Gegenteil, so Romberg: „viele Wortimporte werden rasch wieder aussortiert […].“ (S.138) Tatsächlich bleibt der Anteil der Fremdwörter, speziell auch der Anglizismen, am Gesamtwortschatz der deutschen Sprache über die Zeit erstaunlich konstant. Dies stellt auch Romberg fest: „Insgesamt liegt der Fremdwortanteil im Deutschen heute nicht höher als vor Jahrzehnten […].“ (ebd.)

Wir haben es hier mit einem gelungenen Beitrag in einer nach wie vor emotional geführten Debatte zu tun. Dass die Sprachverfallsklage in der Folge solcher Artikel verstummt, ist sicher zu bezweifeln; doch trägt die Autorin dazu bei, dass eine linguistisch begründete Gegenposition zum Sprachpessimismus die ihr gebührende Aufmerksamkeit erfährt. Schon alleine aus diesem Grund können wir an dieser Stelle eine Lektüre-Empfehlung aussprechen.

Türkendeutsch? Asideutsch? – Kiezdeutsch!

Sitzt oder steht man in einer multiethnischen Stadt – wie es Aachen ist – in einem Bus oder befindet man sich an Plätzen, die bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen sehr beliebt sind, und hört man dort genau hin, könnte es einem in den Ohren widerschallen: Kanak-Sprak!, Gossensprache!, Proletenslang!, Türkendeutsch!, Asideutsch! – so lauten einige von den in Massenmedien häufig getroffenen und stigmatisierenden Charakterisierungen für Sätze wie: „[…] danach isch habe Training“, „[…] isch bin Bushof, lan!“ oder „[…] gestern er war so Fahrschule so […]“.

Eine angemessenere Bezeichnung, die Prof. Heike Wiese aus Potsdam für solche Sätze gefunden hat, ist Kiezdeutsch. Für eine so vielseitige und –schichtige Sprechergruppe, wie es die des Kiezdeutschen ist, sind die oben beispielhaft angeführten Bezeichnungen mehr als unangemessen und irreführend. Die Sprechergruppen sind multiethnisch, kommen aus den verschiedensten Schulkontexten und sind zwischen 13 und 30 Jahre alt – und vor allem: Sie beherrschen alle mehrere Sprachstile. Nur weil ein Junge oder ein Mädchen seinem besten Freund bzw. ihrer besten Freundin entgegnet, sie bzw. er sei so Bushof so, ist es nicht unwahrscheinlich, dass derselbe bzw. dieselbe Sprecher/-in den Großeltern erklären könnte, sie bzw. er sei gerade am/im/beim/vor dem/neben dem Bushof. Davon bekommt man nur meistens nichts mit, weil es zum einen eben nicht in den Ohren schallt und zum anderen diese Gesprächssituation an den Treffpunkten der Sprechergruppen nicht oder nur selten vorkommt.

In der Jugendsprachforschung ist es schon lange ein Topos, dass Kinder und Jugendliche in der Lage sind, zwischen verschiedenen Sprechstilen fast artistisch zu wechseln. Aber auch Erwachsenen gelingt dies sehr gut (nur ist dort die Empörung nicht so groß, dies mag an fehlender Selbstreflexion liegen): Man denke an stark dialektal geprägte Regionen, in denen am Arbeitsplatz das sog. Hochdeutsch gesprochen wird, was nach Heike Wiese – und ich schließe mich ihr gerne an – eben auch nur ein Sprachstil unter vielen möglichen Sprachstilen ist, die das Deutsche zu bieten hat.

In ihrem Buch „Kiezdeutsch. Ein neuer Dialekt entsteht“ beschreibt Heike Wiese solche Sätze, wie ich sie oben als Beispiele formuliert habe, systematisch auf verschiedenen sprachlichen Ebenen (In den Massenmedien werden zu den stigmatisierenden Titulierungen dann gerne Gewaltbereitschaft signalisierende Sätze wie Ich mach dich Messer/Krankenhaus kreiert, als hätten die Sprecher/-innen keine Themen wie Liebe, Versagensängste, Fußball oder Politik – was natürlich völliger Quatsch ist). Was Heike Wiese mit diesem Vorgehen anstößt, ist bemerkenswert: Sie kann zeigen, dass Kiezdeutsch – hier wird gerne von sprachlichen Mängeln oder Fehlern gesprochen – zu einem großen Teil systematisch und damit regelhaft realisiert wird, also als ein Subsystem des Deutschen beschreibbar sein könnte. Ein Merkmal dieses Systems ist es, dass es „offener“ ist, also mehrere Möglichkeiten – so zum Beispiel bei der Verbstellung – zulässt. Dies könnte zu der Annahme führen, dass das System keine Regeln hätte. Dass dies nicht stimmt, kann Heike Wiese ebenfalls zeigen: Sprecher/-innen von Kiezdeutsch markieren willkürliche Verbstellungen, die den Möglichkeiten des Regelsystems nicht entsprechen, als falsch bzw. ungebräuchlich.

Das alles mag dem einen oder anderen nicht gefallen, Beispiele wären der unvermeidliche Wolf Schneider, der in seiner Zeit-Beilage „Wie Sie besser schreiben“ konkret Kiezdeutsch thematisiert, oder Jürgen Kaube, der einen Artikel im Feuilleton der FAZ zu diesem Thema verfasst hat – beide haben aber offensichtlich das Buch nicht gelesen – und man muss es auch nicht schön finden, aber akzeptieren sollte man es doch: Kiezdeutsch ist zu großen Teilen regelhaft, auch wenn diese Regeln vom sog. Hochdeutschen abweichen, was natürlich auch bei allen anderen Dialekten der Fall ist, denken wir an das Rheinische: Dem Pit-Jup singe Tochter usw. Auch hier weicht der Sprachgebrauch regelhaft vom Hochdeutschen ab, nur ist hier das soziale Prestige höher. Heike Wiese weist in diesem Zusammenhang völlig zu Recht darauf hin, dass mit dem Problem der sozialen Abwertung viele Dialekte zu kämpfen haben. Jetzt habe ich es doch schon mindestens zwei Mal gesagt und auch so gemeint: Dialekt! Der Sprachwissenschaftler Prof. Helmut Glück aus Bamberg bestreitet in einem Interview vehement, dass Kiezdeutsch ein Dialekt sei. Er weist auf die fehlende Ortgebundenheit (Kölsch, Bairisch, Hessisch etc.) hin. Das Argument ist auch gar nicht schlecht, denn dies ist ein Definitionsmerkmal von Dialekten, aber: Wenn Herr Glück das Buch von Heike Wiese aufmerksam und bis zum Ende gelesen hat, dann weiß er auch, wie Heike Wiese hier argumentiert. Zum einen unterscheidet sie einen engen von einem weiten Dialektbegriff, aber viel wichtiger ist Folgendes: Sie kann zeigen, dass das systematische Kiezdeutsch in verschiedenen Regionen doch starke Ähnlichkeiten aufweist. Die Orte, an denen Kiezdeutsch gesprochen wird, sind zwar über die Landkarte wild verteilt, anders als Hessen, Bayern oder Köln, aber die Orte weisen doch klare Gemeinsamkeiten auf: Sie sind urban, multiethnisch und zumeist sozial benachteiligt – aber dies erlaubt noch lange kein negatives Urteil über die Sprecher/-innen von Kiezdeutsch und deren Sprachkompetenz. Helmut Glück spricht bei dieser Argumentation von „Wurschtigkeit gegenüber der Funktion einer Hochsprache“, die man allerdings Heike Wiese nur schwerlich unterstellen kann, wenn man das Buch ganz gelesen hat. Außerdem bemängelt Helmut Glück die fehlende historische Tiefe. Was soll man dazu sagen? Das Buch ist eben im Jahre 2012 geschrieben und stellt synchron eine Entwicklungstendenz fest, es ist nicht im Jahre 2500 mit diachroner Perspektive verfasst worden. Zudem spricht Heike Wiese zwar von einem Dialekt, der aber eben erst entsteht, dies zwar rasant, aber er entsteht erst – genau wie andere Dialekte auch entstanden sind und nicht über das Volk gefallen sind wie in der Apostelgeschichte des Lukas.

Das Buch „Kiezdeutsch. Ein neuer Dialekt entsteht“ von Heike Wiese ist, genau wie ihr gesamtes Kiezdeutsch-Projekt selbst, ein wertvoller Beitrag der Sprachwissenschaft zu einer öffentlichen und sehr brisanten Diskussion – wenn man sich für derartige Phänomene interessiert, sollte man es lesen und zwar vollständig. Dass man das Thema kritisch diskutieren kann, ist völlig klar – dies zeigt Heike Wiese ebenfalls, wenn vielleicht auch nicht beabsichtigt. Heike Wiese sieht in Kiezdeutsch einen gewinnbringenden Beitrag zur deutschen Sprache. Dieses Urteil muss man nicht teilen, vielleicht sollte man es sich als Sprachwissenschaftler/-in auch sparen oder verkneifen, aber eines muss zur Kenntnis genommen werden: Kiezdeutsch ist regelhaft und beschreibbar – und das sollte man nutzen.

Bevor man also eine ganze Sprechergruppe über Bausch und Bogen wegen des Sprachgebrauchs verurteilt, sollte man sich den betreffenden Sprachgebrauch erst einmal systematisch und empirisch anschauen: Au Banaan!

An dieser Stelle möchte ich zudem auch „Chancen der Vielfalt“ erwähnen, ein Projekt, das produktiv und nicht stigmatisierend mögliche Probleme angeht – es geht um die Förderung von Sprachkompetenz und dazu gehört eben auch die Fähigkeiten, an den entsprechenden Stellen eben den angemessenen Stil zu wählen.